Warum digitale Ethik?

Wenn ein radikaler technologischer Fortschritt ins Leben von Gesellschaften tritt, ist grundsätzlich erstmal alles erlaubt. Dann dauert es eine Weile, bis besagte Gesellschaften ein Gefühl für die Herausforderungen dieses Fortschritts bekommen und dann dauert es noch mal eine quälend lange Zeit, bis entsprechende Gesetze die Spielregeln für die neuen Möglichkeiten formulieren.

Ethik ist in diesem Zusammenhang immer dann spannend, wenn Dinge de jure erlaubt sind, aber eine Gesellschaft lernt: Man sollte es trotzdem nicht tun. Ethische Leitlinien sind die Basis für unsere Gesetze. Im digitalen Erfahrungsraum wimmelt es nur so von unbeantworteten ethischen Fragen und jeden Tag kommen neue hinzu. Nicht alle muss man sofort beantworten, eine schon:

Wem gehören unsere Daten?

Daten sind deshalb so begehrt, weil sie alles über jeden einzelnen von uns Menschen speichern und zwar weit über das hinaus, was wir selbst über uns wissen. Diese Daten können dann Antworten auf Fragen zu unseren intimsten Themen und Geheimnissen liefern. Diese Daten lügen nicht, es sind Fakten, die ihrem Archivar jeden Tag ein noch feineres Bild über Dein Wesen, Deine Ängste und Bedürfnisse liefern. Unternehmen wie Facebook und Google können mit unseren Daten experimentieren und prüfen, wie sich unser Verhalten verändert, wenn sie uns mit unterschiedlichen Impulsen füttern. Sie bieten viele Möglichkeiten, unser Verhalten zu steuern, indem sie jederzeit entscheiden können, welche Informationen wir sehen und welche Informationen uns verborgen bleiben. 

Die Manipulationsmöglichkeiten, die sich aus einer solchen Daten-Macht ergeben, sind für viele Menschen unvorstellbar. Und genau in dieser Unvorstellbarkeit liegt das Problem. Wir alle leben zum ersten Mal in einer Welt, in der Konzerne nahezu alles über uns wissen und unser Verhalten kraft dieses Wissens verändern können. 

Daraus ergeben sich gleich mehrere ethische Fragestellungen: 

  • Dürfen Unternehmen den Besitz von persönlichen Daten beanspruchen? Oder gehören Daten zunächst ihren Erzeugern und Erzeugerinnen?
  • Darf ein Unternehmen so viel Wissen über uns anhäufen, dass es uns besser kennt als wir uns selbst?
  • Dürfen Unternehmen unsere Daten untereinander tauschen, um ihr Wissen über uns zu vermehren?
  • Dürfen Unternehmen, die so viel über uns wissen, Politiker beraten?
  • Dürfen Unternehmen, die so viel über uns wissen, ihre Methoden der Verhaltensmodifikation als Betriebsgeheimnis schützen?
  • Dürfen Unternehmen, welche die wichtigsten Informations- und Kommunikations-Infrastrukturen der Welt besitzen, Einfluss auf den Informationsfluss nehmen?
Wlan Mensch

Wenn Du so willst verbirgt sich hinter der nicht ausdiskutierten Daten-Frage eine Ursünde, die wir alle gemeinsam begangen haben. Unternehmen sind nicht böse, weil sie im Rahmen des Möglichen ihre Gewinne maximieren wollen. Vielmehr fördert die Abwesenheit von Regeln und ein extrem harter Konkurrenzdruck Methoden, die sich im Grenzbereich zwischen Cleverness und Betrug bewegen. Unternehmen haben sich noch nie aus freien Stücken ethischen Prinzipien unterworfen. Sie tun es erst dann, wenn die Gesellschaft um sie herum es von ihnen verlangt.

Was ist Ethik?

„Was soll ich tun? Was ist richtig?“

Wo hört das Recht des oder der Einzelnen auf, die eigenen Interessen durchzusetzen? Was passiert, wenn die eigenen Normen und Werte nicht mit denen anderer Mitmenschen oder Gruppen übereinstimmen?

Ethik ist ein System aus Werten und Normen, eine Sammlung von Leitlinien, an denen Du Dein Handeln ausrichten kannst. Gleichzeitig fördert sie den Diskurs in Konfliktsituationen und berücksichtigt dabei auch die unterschiedlichen Ausgangspunkte, Normen und Werte der Beteiligten.

Wir erleben ethische Leitlinien täglich als Tradition, als Gesetz, als Firmenregel, in der Empfehlung (oder Maßregelung) unserer Eltern, unserer Lehrer und Lehrerinnen oder als Stirnrunzeln einer unbekannten Person auf der Straße, während wir die Fußgängerampel bei Rot überqueren.

Sie werden überliefert, vorgelesen, gepredigt und sind ein wichtiger Bestandteil unser Kultur und Identität.

Und sie ändern sich im Laufe der Zeit.

Was genau im Einzelfall richtig ist, lässt sich kaum für alle Situationen sagen. Wir können uns aber auf gemeinsame Leitlinien für gute und weniger gute Entscheidungen einigen. Nach diesen Leitlinien kann Jede und Jeder für sich selbst abwägen, was zu tun ist.

Das funktioniert allerdings nur unter folgenden Voraussetzungen: 

  • Wir können uns in die Lage der Anderen versetzen. 
  • Die Konsequenzen unseres eigenen Handelns sind erkennbar.
  • Und nur wir Menschen sind es, die Entscheidungen treffen und handeln – und somit auch Verantwortung tragen können. 

Was ist digitale Ethik?

In der digitalen Welt sind diese Voraussetzungen schwerer zu erfüllen und das ist ein Problem: 

  • Filterblasen machen es zum Beispiel schwerer, die Sichtweise Andersdenkender überhaupt mitzubekommen und zu verstehen. 
  • Digitale Anonymität und Distanz machen es schwer, Mitgefühl zu entwickeln. Die Leichtfertigkeit und Verachtung, die aus Hasskommentaren sprechen, sind ein deutliches Beispiel. Während der Troll ein Bier trinkt, kann sein Opfer nicht schlafen.  
  • Die Folgen unseres digitalen Handelns sind für die Meisten nicht transparent. Kaum jemand liest die Verträge, mit denen Internetkonzerne sich Rechte an unseren Daten und Handlungen sichern. Niemand außerhalb der Technologie-Riesen weiß, wie unsere Aufenthaltsorte, Käufe, Spiele, Kommentare, Suchen, Videostreams, Chats, Likes, unsere Fingerabdrücke und unser Minenspiel verwendet werden. Und zu welchen Manipulationen unseres Denkens und Handelns sie missbraucht werden. Oder wie sie verwendet werden, um uns zu übervorteilen.
  • Immer mehr Entscheidungen und Handlungen werden an Algorithmen delegiert, die nicht mehr nachvollziehbar sind. Wer trägt die Verantwortung für deren Entscheidungen? Wer wägt ab, ob sie zum Wohle der Allgemeinheit sind? Wer trägt die Konsequenzen für Fehlentscheidungen? 

Damit wir uns moralisch verhalten können, brauchen wir zunächst wieder mehr gemeinsames Erleben unserer gemeinsamen Wirklichkeit. Plattformen, die systematisch vereinsamende, nicht nachvollziehbare Wahrnehmungen schaffen, entziehen uns die Grundlage für eine gemeinsame Ethik. Wir als Gesellschaft haben uns schon immer mit diesen Fragen befasst und dies muss auch für die digitale Ethik geschehen. Ähnlich wie bei der Gentechnik brauchen wir eine Reflexion darüber, wie wir mit den neuen Möglichkeiten und miteinander umgehen wollen. Wir brauchen neue, digitale Leitlinien, die Staaten, Konzernen und Individuen ein Abwägen von Einzel- und Gemeinschaftsinteressen ermöglichen. 

Wir, die Gesellschaft für Digitale Ethik, möchten diesen Prozess hin zu einer erneuerten Ethik ermöglichen, beginnen und begleiten.